Vor vier Jahrzehnten warnte eine vom Club of Rome in Auftrag gegebene Studie vor den Grenzen des Wachstums. Wenn wir unsere Wirtschafts-, Konsum- und Lebensweise nicht radikal verändern, so die zentrale These der Studie, zerstören wir langfristig unsere eigene Lebensgrundlage. Was zunächst als Kassandraruf verhallte, stößt heute, vier Jahrzehnte später, zunehmend auf Resonanz. Die im französischen Sprachraum als decroissance und im angelsächsischen Sprachraum als degrowth diskutierten Konzepte finden ihre Entsprechung im deutschsprachigen Raum im Postwachstum oder können unter den Begriff Wachstumskritik subsumiert werden.
Die zentrale Frage dahinter lautet: Wie kann unser Wirtschaftssystem so umgestaltet werden, dass es nicht mehr dem Zwang zu exponentiellem Wirtschaftswachstum unterliegt? Oder anders: Wie können ökonomische Wachstumstreiber beseitigt und Wachstumszwänge vermindert werden? Als Wachstumstreiber werden in der Wachstumskritik der Profitfaktor, die Steigerung des Produktivitätsgrades, die Ausnutzung aller sich bietenden Möglichkeiten, die Schaffung neuer Bedürfnisse, die zeitliche Struktur des Marktprozesses, die Erhöhung des Spezialisierungsgrades, das zinsbasierte Geldsystem sowie die Arbeitsplatzschaffung und maximaler Konsum identifiziert. Eine falsche Unterscheidung von Ertrag und Kapital, ein bruchstückhaftes Werturteil der Wirtschaftswissenschaften sowie die Externalisierung von Kosten werden als unterstützende Elemente betrachtet.
Aus einer Aufarbeitung der wachstumskritischen Literatur geht hervor, dass es nicht die Wachstumskritik gibt, sondern heterogene wachstumskritische Ansätze. So sieht Saral Sarkar die Lösung in einem Öko-Sozialismus mit dezentralisierter Planung durch den Staat, während Tim Jackson einen stark veränderten Kapitalismus vor Augen hat. Ivan Illich, Nicholas Georgescu-Roegen und Herman Daly sehen den Handlungsbedarf zuvörderst auf politischer Ebene, Niko Paech hingegen argumentiert hauptsächlich individualethisch. Diese Heterogenität spiegelt sich in den zahlreichen Bezeichnungen für systemische Alternativen wider, darunter Ökonomie der Stetigkeit, Ökonomie der Fülle, mittlere Technologie, konviviale Gesellschaft, steady-state economy, Öko-Sozialismus, begrenztes Wirtschaftssystem des guten Lebens, nachhaltige Moderne und Postwachstumsökonomie. Selbst der Ursprung der Kritik unterscheidet sich. Sind es bei Illich und Schumacher soziale Missstände, die als Ausgangspunkt der Überlegungen dienen, sind es bei Georgescu-Roegen und Hueting ökologische Problemstellungen. Einige Ansätze zur Minderung der genannten Wachstumstreiber ziehen sich trotz der Heterogenität der vorhandenen Theorien wie ein roter Faden durch die wachstumskritische Literatur: eine Umverteilung der Erwerbsarbeit (Verkürzung der Wochenarbeitszeit), eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen (bspw. durch ein bedingungsloses Grundeinkommen), eine kleinteilige Wirtschaft mit begrenzten industriellen Institutionen, ein zinsloses Geldsystem, Verteilungsgerechtigkeit, Mitbestimmung, Deindustrialisierung, Reflexion und Bewusstseinswandel, alternative Wert- und Wohlstandsbegriffe, sowie eine Veränderung der gesellschaftlichen Konsummuster durch Suffizienz und Subsistenz.
Niko Paech, der den Begriff Postwachstumsökonomie geprägt hat, zählt eine Reihe von Faktoren auf, die Unternehmen in einer Wirtschaft jenseits des Wachstums kennzeichnen: die Verkürzung von Produktions- und Wertschöpfungsketten, eine Reduktion der Arbeitszeit, dezentralisierte, kleine Produktionskapazitäten, geringe Kapitalbindung, kurze Transportwege, Produktion für den lokalen Markt, Einsatz von Regionalwährungen und genossenschaftliche Strukturen. Überschaubare Unternehmen, die sich nicht an maximaler Rendite, sondern an unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung orientieren. Ein Rückbau des industriellen Komplexes und eine partielle De-Globalisierung würde zwar verringerte Kaufkraft und Optionenvielfalt bedeuten, dies kann jedoch durch Suffizienz und Subsistenzpraktiken aufgefangen werden. Ein besonderer Stellenwert kommt der Pflege, Instandhaltung und Reparatur von Gütern zu. Wenn Konsumobjekte doppelt so lange genutzt werden, reicht die Hälfte der industriellen Produktion. Es sind die Nutzer selbst, die durch den allmählichen Wandel vom Konsumenten zum »Prosumenten« die ökonomische Souveränität erlangen, kraft eigener substanzieller, manueller und sozialer Kompetenzen Industrieproduktion zu ersetzen. Damit kann die strikte Trennung von Konsumieren und Produzieren, von der jedes an der industriellen Arbeitsteilung partizipierende Individuum betroffen ist, teilweise zu zugunsten nachhaltiger Lebensstile aufgelöst werden. Ziel in einer Postwachstumsökonomie ist ein Industrierückbau bei gleichzeitigem Subistenzaufbau. Dieser erfordert nicht nur handwerkliche Kompetenzen, sondern auch soziale Beziehungen und vor allem Zeit.
Neben der Verkürzung der Arbeitszeit folgt daraus die Anforderung an Unternehmen, ihre Kunden in ihrer Entwicklung zu Prosumenten zu unterstützen, indem beispielweise Produktinstandhaltungskurse angeboten werden (Prosumenten-Management). Auch die Entwicklung modularer, reparabler Produktdesigns könnte Subsistenzleistungen erleichtern. Durch Umbau statt Neubau von Gütern könnten stoffliche Nullsummenspiele erreicht werden, Unternehmen, die daran orientiert seien, träten als Instandhalter, Reparaturdienstleister, Renovierer, Umgestalter, Provider eigentumsloser Dienstleistungen und Intermediäre auf. Wenn es zu einer Addition materieller Objekte oder Inanspruchnahme ökologischer Kapazitäten komme, müsse dies mit einer Subtraktion verbunden sein, durch die andernorts Ressourcen und Räume freigegeben würden. Zu den notwendigen institutionellen Innovationen zähleneine Währung mit einer das Zinsniveau gegen Null senkenden Geldumlaufsicherung, eine Bodenreform sowie eine Deckelung von Umweltbeanspruchungen. Damit deckt die Postwachstumsökonomie einen Großteil der Ansätze, die sich in der wachstumskritischen Literatur in unterschiedlicher Ausprägung finden, ab.
Binswanger, Hans Christoph (2009), Vorwärts zur Mäßigung, Hamburg
Daly, Herman (1991), Steady-State Economics, 2nd ed. with new essays, Washington
Daly, Herman (1999), Wirtschaft jenseits von Wachstum, Salzburg
Georgescu-Roegen, Nicholas (1971), The Entropy Law and the Economic Process, Cambridge
Hueting, Roefie (1980), New Scarcity and Economic Growth, Amsterdam / New York / Oxford
Illich, Ivan (1998), Selbstbegrenzung – Eine politische Kritik der Technik, München
Jackson, Tim (2011), Wohlstand ohne Wachstum, München
Paech, Niko (2005), Nachhaltiges Wirtschaften jenseits von Innovationsorientierung und Wachstum, Marburg
Paech, Niko (2012), Befreiung vom Überfluss, München
Sarkar, Saral (2001), Die nachhaltige Gesellschaft, Zürich
Schumacher, Ernst Friedrich (2013), Small is beautiful – Die Rückkehr zum Menschlichen Maß, Neuauflage, München
Welzer, Harald (2014), Selbst Denken, 3. Auflage, Frankfurt