nahgenuss.at ist eine vor vier Jahren gegründete Online-Plattform für die Direktvermarktung von Bio-Frischfleisch, -fisch und anderen Tierprodukten, die Produzentinnen und Konsumentinnen zusammenbringt. Nahgenuss will einerseits „familiären, regionalen Bio-Bauernhöfen, die Tiere halten, dabei helfen, von der Landwirtschaft überleben zu können“, andererseits „dass gutes Fleisch wieder wertgeschätzt wird und als das wahrgenommen wird, was es ist: Ein ganz besonderes Produkt.“ [1]
Werden auf der einen Seite kleine und regionale Anbieter durch das Preisdiktat des Großhandels zunehmend marginalisiert und in eine nicht selten existentielle Abhängigkeit gebracht, beträgt die einbehaltene Handelsspanne auf der anderen Seite regelmäßig 80 Prozent und scheint ein Aufweichen der starren etablierten Machtstrukturen kaum zuzulassen, die den Missstand aus Massentierhaltung, Billigfleisch und dem zunehmenden Verschwinden ehrlicher Anbieterinnen vollends zu perfektionieren drohen. Mit seinem ganzheitlichen innovativen Konzept schafft es nahgenuss, für eben diese Zusammenhänge Transparenz und Bewusstsein zu schaffen, Komplexitäten zu reduzieren und Menschen (über ehrliche Lebensmittel) zusammenzubringen.
GESCHICHTE
Der Sonntagsbraten war fester Bestandteil der Kindheit der jungen Brüder Lukas und Micha Beiglböck aus Graz. Die Großeltern hatten selbst noch Schweine und es war üblich, dass eine oder mehrere Familien sich zuweilen ein Tier teilten, erinnern sich die beiden. „In unserer Kindheit waren wir noch selbst bei Hofschlachtungen dabei. Doch seit damals hat sich vieles in der Landwirtschaft und im Konsumverhalten verändert: Eine Tendenz zu Billigfleisch und Massenställen neben der Autobahn mit bis zu tausenden Tieren sind heute keine Seltenheit.“ Man weiß daher bei Fleisch selten, was man eigentlich bekommt, weiß nicht, welches Futter die Tiere bekamen, wo und wie sie gehalten und geschlachtet wurden. Doch natürlich gibt es auch die Bio-Bäuerinnen, die sich nicht nur für artgerechte Haltung, sondern auch für Artenvielfalt einsetzen und hochqualitatives Fleisch erzeugen. Der Bauernhof, auf dem die Mutter der beiden groß wurde, ist mittlerweile ein solcher Bio-Bauernhof und wird vom Cousin der Brüder geführt. Bei ihm erlebten sie einerseits die Schwierigkeiten, die durch den Marktdruck entstehen, andererseits, dass die Direktvermarktung oft schwierig ist, da den Bauern meist die Zeit und das Know-How fehlen und sie außerdem alle Teile eines Tieres zum Verkauf bringen müssen, um Überleben zu können. So machten es sich die Beiglböcks zur Aufgabe, Produzentinnen und Konsumentinnen wieder zusammenzubringen. Dies gelang ihnen durch die innovative Übersetzung einer alten Idee ins Internetzeitalter. Sie riefen die Plattform nahgenuss ins Leben, auf der Bio-Bäuerinnen selbstständig ausschließlich ganze Tiere inserieren. Über diese Plattform finden sich genug Kundinnen, die sich ein ganzes Tier teilen. Erst, wenn alle Teile des Tieres vorab verkauft sind, wenn sich also genug Käuferinnen gefunden haben, wird das Tier geschlachtet und die Kundinnen können sich dann die küchenfertigen Fleischpakete entweder am Hof direkt abholen oder sie sich österreichweit bequem per Kühlversand zusenden lassen. Das innovative Verkaufskonzept ermöglicht oder erleichtert den Bäuerinnen die Direktvermarktung und hat dabei den Vorteil, dass sie durch den Ab-Hof-Verkauf deutlich mehr verdienen als im Handel und sie zudem die Wertschätzung der Kundinnen zu spüren bekommen. Die Kundinnen andererseits erfahren völlige Transparenz, da sie mit eigenen Augen sehen können, woher das Fleisch kommt, das sie übrigens durch den Ab-Hof-Verkauf günstiger bekommen als im Handel. Dass das ganze außerdem dem Wohl der Tiere und der Umwelt dient, schlägt sich bereits in der Namensgebung der Plattform nahgenuss und im Motto nieder, dass das Gute oft das wortwörtlich Naheliegende ist.
PROBLEME UND LÖSUNGEN im Detail
Die Probleme und Lösungen sollen im Folgenden von drei Seiten beleuchten werden: vom Tier, von der Bäuerin und von der Konsumentin.
Tier (und Umwelt)
Problem: Massentierhaltung, einseitiger/übermäßiger Konsum, Umweltzerstörung
Das Problem der Intensivtierhaltung muss hier nicht näher beschrieben und kritisiert werden: Die drastische Problematik hat längst Eingang gefunden in das Bewusstsein auch der breiten Bevölkerung, wenngleich das Problem der Intention-Verhaltens-Lücke weiter bestehen bleibt, der nahgenuss jedoch durch sein innovatives Konzept eine mögliche Form der Abhilfe entgegenzustellen vermag. Einseitiger Konsum bezieht sich hier auf einen unehrlichen und respektlosen Bezug zu Fleischprodukten, näherhin auf das mangelnde Bewusstsein der Konsumentinnen für die Gleichwertigkeit aller Teile eines Tieres.
Lösung: Tiergerechtheit, reduzierter Konsum und Tiervielfalt, Umweltschutz
Der nicht artgerechten Aufzucht, den Futtermittelimporten aus Übersee, dem einseitigen und übermäßigen Konsum von Billigfleisch und dem immer weniger ehrlichen Bezug zum Produkt soll entgegengetreten werden durch eine gelebte Tiergerechtheit und wiederbelebte Tiervielfalt durch Bio-Bäuerinnen. Abgesehen vom Wohl der Tiere, ist es nahgenuss außerdem um ein neues Bewusstsein dafür zu tun, dass das Gute oft das wortwörtlich Naheliegende ist, also um Regionalität und Umweltschutz, um die klimafreundliche Bereitstellung und Verbringung von Lebensmitteln aus möglichst nächster Nähe.
Produzentin
Problem: Mangelnde ideelle und finanzielle Wertschätzung von Bio-Bäuerinnen und ihren Erzeugnissen, häufig fehlendes Know-How für Direktvermarktung
Warum müssen kleine, familiäre, regionale Betriebe, die aus Überzeugung für das Wohl der Tiere, der Umwelt und der Konsumentinnen einstehen, um ihr Überleben kämpfen?
(1) Abhängigkeit vom Großhandel, mangelnde finanzielle Wertschätzung. — „Wenn man jetzt im Supermarkt Fleisch einkauft, gehen 80 % an den Handel, an die Logistik, und 20 % an den Bauern.“ Das grauenvolle Schicksal für Bäuerinnen und Tiere ist aus mittlerweile unzähligen Berichten, Büchern und Dokumentationen bekannt. Doch nicht nur in der Massentierhaltung, auch für die Bio-Bäuerin läuft es oft so ab, dass das hochqualitative Produkt zu Spottpreisen abgegeben werden muss. Ob ein Rind glücklich war oder nicht, interessiert den Großhandel herzlich wenig, der mit seinem Preisdiktat gerade kleine, familiäre, regionale Betriebe finanziell an den Rand der Existenz drängt. Der scheinbar einzige Ausweg der Direktvermarktung scheitert zum einen häufig an der wachsenden realen Distanz zur Kundschaft, zum anderen auch an der fehlenden Zeit und dem fehlenden Know-How in Sachen Marketing – schließlich ist Landwirtin ein harter Vollzeitjob.
(2) Verwertung des ganzen Tieres, mangelhafte ideelle Wertschätzung der Arbeit und des Erzeugnisses. — Die Landwirtinnen werden zwar schnell die bekannten Teile eines Tieres los (das Filet, das Karree usw.), aber auf den vielleicht nicht so bekannten und als minderwertig erachteten Stücken bleiben sie sitzen, was für die Bäuerin unwirtschaftlich bis untragbar ist. Der Handel „löst“ dieses „Problem“ (denn eigentlich mitverursacht er es auf diesem Wege) , indem er etwa zwei Drittel des Tieres ins Ausland exportiert, was eine kleine Landwirtin natürlich nicht schaffen kann und selbstredend nicht schaffen will. Mit der mangelhaften bis mangelnden Wertschätzung von Fleisch als einem Naturprodukt und Lebensmittel (in Abgrenzung zu einem Industrieprodukt) geht auch die ideelle Distanz zwischen Konsumentin und Produzentin einher. Wer von Kindheit an nur die vorgeschnittene und in Plastik abgepackte „Extrawurst“ (was als solche zumindest ausgegeben wird) für wenige Cents kennt, hat kaum eine Chance, einen Bezug, geschweige denn eine positive Wertschätzung aufzubauen für die Handarbeit und den natürlichen Prozess, die dahinterstehen bzw. dahinterstehen sollten.
(3) Reale Distanz zur Kundschaft. — Eine weitere strukturelle Problematik der Landwirtinnen ist die bis zu einem gewissen Grade natürliche Distanz zwischen Produzentin und Konsumentin, die durch eine steigende Urbanisierungsrate stark befördert wird. „Die Landwirte sind meistens sehr weit weg von den Leuten. Also unsere Konsumenten sind oft in Städten beziehungsweise im Umland von den Städten. Die Landwirte sind naturgegeben nicht dort, wo Menschen wohnen“, so Micha Beiglböck, der daher seine selbstgestellte Aufgabe darin sieht, diese Gruppen miteinander zu verbinden.
Lösung: Maximierung der Unabhängigkeit, der Wertschöpfung und -schätzung durch Direktvermarktung und eigene Logistik
(1) Unabhängige, selbstständige Direktvermarktung über Onlineportal, finanzielle Wertschätzung. — Um die exorbitante und schädliche Handelspanne zu umgehen und sinnvoll zu nutzen, haben die Brüder Beiglböck das Webportal nahgenuss installiert, auf dem höchsten Standards genügende Landwirtinnen die Möglichkeit haben, ihre Produkte direkt zu vermarkten. Jede Bäuerin oder Züchterin hat ein eigenes Profil, auf dem sie sich, ihr Tun und ihre Produkte vorstellen kann und dabei vollkommen selbstständig und unabhängig bleibt. Wo der Handel 80 Prozent einstreicht, lassen sich die Gründer Micha und Lukas Beiglböck für ihren Vollzeitaufwand bloß mit 12 Prozent entschädigen. Durch den Direktverkauf wird Wertschöpfung maximiert (wenn sich nicht stellenweise überhaupt erst ermöglicht wird), durch die die Landwirtinnen anständige Preise erhalten und durch die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit geschaffen, gestärkt und bewahrt wird.
(2) Nur ganze Tiere, nur Mischpakete, ideelle Wertschätzung. — Die alte Idee bzw. der alte Brauch, den sie selbst noch aus Kindertagen kennen, dass man sich ein Tier teilt (was heute als crowd butchering seinen Ausdruck findet), haben die Brüder Beiglböck ebenso innovativ wie simpel ins Zeitalter der Digitalisierung übertragen. Über ihre Plattform nahgenuss finden sich immer genug Kundinnen, die sich ein ganzes Tier teilen, das erst nach komplettem Verkauf geschlachtet wird. Neben dieser Voraussetzung wird das ganzheitliche Bewusstsein und der Respekt für das Tier noch weitergelebt: die Konsumentinnen, die sich ein Tier teilen, erhalten ausschließlich Mischpakete von vorbestimmter Quantität. Die Botschaft von nahgenuss lautet entsprechend, dass alle Teile Edelteile sind, wenn man – so der Nachsatz – um die entsprechende Zubereitung wisse. Diese bewusstseinsbildende Erziehung der Verbraucherinnen hin zu einer neuen (oder alten) Wertschätzung des ganzen Tieres wird über die Plattform bewusst, einfach und eindringlich kommuniziert. Auf diesem Wege wird auch wieder ins Bewusstsein gerufen, dass und welch aufwendige Arbeit hinter dem Lebensmittel steht. Die Wertschätzung und der persönliche Kontakt zu den Landwirtinnen ist für viele Landwirtinnen fast mehr Lohn als der finanzielle Ausgleich, den sie auf diesem Wege erhalten. Landwirtinnen erlangen so die Möglichkeit, wieder als das respektiert zu werden, sich wieder und weiter entfalten zu können als das, was sie sind: die Region belebende Leitfiguren und -betriebe.
(3) Selbstorganisierte Logistik. – Nach der Überbrückung der gleichsam ideellen Distanz über die Plattform, bleibt schließlich noch die Frage, wie die Produkte tatsächlich zur Verbraucherin gelangen. „Wenn man da den Handel ausschaltet, dann kann man mit diesen 80 % sehr gut arbeiten. Natürlich entstehen höhere Kosten, wenn man selbst die Logistik machen muss, aber trotzdem geht sich das aus, dass überall ein Gewinn ist.“ So hat es nahgenuss also zusammen mit den teilnehmenden Landwirtinnen geschafft, Logistikpartnerinnen zu finden und zu organisieren, die auch am Land tätig sind. Damit ist die Verbringung der für 48 Stunden gekühlten Fleischversandpakete garantiert auch für Kundinnen, die nicht selbst zum Hof fahren wollen oder können.
Konsumentin
Problem: Mangelnde Transparenz, minderwertiges Billig- oder überteuertes Bio-Fleisch, Intention-Verhaltens-Lücke
Die Konsumentin ist ebenso Teil des Problems wie sie Schlüssel zur Lösung ist. Bei ihr schließt sich gleichsam der Kreis. Der Druck „des Marktes“ mag übermächtig sein, letztlich sind es die einzelnen Konsumentinnen, die sich für abgepacktes Billigfleisch oder für nahgenuss entscheiden. Einerseits spricht nahgenuss Verbraucherinnen an, die bereits auf der Suche nach qualitativ hochwertigen und vielfältigen Produkten sind und ein entsprechendes Bewusstsein dafür mitbringen. Andererseits geht es natürlich um eine konstante Erweiterung dieses Bewusstseins und damit um eine Expansion des Gedankens und des Geschäftsmodells. Dies geschieht durch bewusstseinsbildende Maßnahmen mittels gezieltem Marketing. Neben den Argumenten des Tierwohles, des Umweltschutzes und der Wertschätzung der Bäuerin, beantwortet nahgenuss der Konsumentin die Frage, weshalb sie sich für das Portal entscheiden soll, letztlich noch auf die vermutlich entscheidende Art und Weise: über den Preis.
Lösung: Transparenz, Bio-Fleisch zu leistbaren Preisen
Neben all den genannten Punkten ist es einerseits die Transparenz für die Kundin, das Wissen, welches Produkt sie bezieht, von wem und woher genau es kommt, das ihr Sicherheit gibt. Andererseits ist es der simple Umstand, dass der Bezug über nahgenuss preiswerter ist als der Einkauf im Supermarkt. Dass und auf welch simplem Wege dies möglich ist, nämlich durch das Umgehen und Nutzen der Handelsspanne von 80 Prozent, haben wir bereits oben gesehen. Über die Maximierung der Qualität und die Minimierung des finanziellen und (bei Lieferung) logistischen Aufwandes gelingt es nahgenuss letztlich die entscheidende Lücke zwischen Intention und Verhalten zu schließen.
ABSCHLUSS UND AUSSICHT
Diese Lücke zu schließen oder zu überbrücken für diejenigen, die die Möglichkeit und Muße haben, sich mit nahgenuss auseinanderzusetzen, ist ein mögliches und bis jetzt erfolgreiches Unterfangen. Doch liegt die größte Herausforderung für Micha und Lukas Beiglböck schlichtweg darin, „einfach mehr Bekanntheit zu erlangen. Wir haben ein recht eingeschränktes Budget natürlich. Und Werbung kostet viel Geld, das ist für uns die größte Herausforderung, dass wir noch mehr Bekanntheit erlangen.“ Dennoch ist nahgenuss auf einem guten Weg und entwickelt sich stets weiter. „Der Aufbauprozess dieses Gemeinschaftsprojekts braucht viel Zeit, Kraft, Einsatz, Flexibilität und vor allem ein mutiges Voranschreiten in neue, unbekannte und oft auch herausfordernde Lebenswelten. Dankbar und gezielt finden wir viel Wissen und Unterstützung durch unterschiedliche Menschen und bereits bestehenden Initiativen.“ Lukas und Micha Beiglböck sind regionale Unternehmer, da auch für sie letztlich die Kooperation intrinsische Motivation, Mittel und Zweck zugleich sind, für die und durch die sie ihr innovatives Konzept nahgenuss zur Umsetzung bringen konnten und hoffentlich weiterhin können werden.
[1] www.nahgenuss.at: alle Folgenden Zitate, wo nicht anders ausgewiesen, entstammen entweder besagter Internetpräsenz, Flyern und Broschüren oder eigenen Aufzeichnungen meines Gesprächs mit Micha Beiglböck am Donnerstag, den 2.5.2019.
Plattform-UnternehmerInnentum für die Region – nahgenuss web service
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- Geschrieben von Nick Brandel
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