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Die oststeirische Marktgemeinde Neudau, hart an der Grenze zum Burgenland, machte in den letzten Jahren – wenn überhaupt – v. a. negative Schlagzeilen: Der Garnhersteller Borckenstein, für gut vier Generationen Hauptarbeitgeber im Ort, schlitterte Anfang 2019 erneut in die Insolvenz. Wenige Wochen später dann das endgültige Aus für die zuletzt 140 (von ehemals rund 500) MitarbeiterInnen. Auf den ersten Blick ist Neudau also der klassische Sanierungsfall. Wenn man genauer hinschaut, verbirgt sich dahinter aber eine erstaunliche Erfolgsgeschichte – die Geschichte einer Gemeinde, die den Strukturwandel selbst in die Hand genommen, sich dabei neu erfunden hat und trotzdem treu geblieben ist. Neudau ist ein Beispiel dafür, wie wichtig der Umgang mit der eigenen Geschichte und Identität eines Ortes für seine Entwicklung ist – und wie all das unternehmerisch gestaltet werden kann. Dass der amtierende Bürgermeister über die Geschichte der Region, der Textilindustrie und der ArbeiterInnenbewegung vor Ort promoviert hat, war dabei kein Schaden. In diesem Sinne ist Neudau ein Schulbeispiel für politisches UnternehmerIntum.

 
Neudau ist eine total untypische Landgemeinde: Zunächst einmal politisch, als „rotes Nest“ inmitten einer traditionell schwarz, zuletzt zunehmend blau bzw. neuerdings türkis geprägten Landschaft. Bei der Gemeinderatswahl 2015 (auch nach Zusammenlegung mit einer „schwarzen“ Gemeinde) und der Landtagswahl 2019 holten die SozialdemokratInnen über 50%, auch bei der Nationalratswahl blieb man immerhin – gegen den Trend – stimmenstärkste Partei. Untypisch ist Neudau auch, was die Probleme angeht: Es sind die Probleme einer Industriegemeinde, konkret des Niedergangs der Textilindustrie, der hier – auch das sehr untypisch – sehr spät, aber dann doch realisiert werden musste. Total untypisch ist die Gemeinde aber auch, was den Umgang mit diesem Strukturwandel angeht.

Strukturwandel ist hier nichts, das passiert oder erlitten wird – sondern etwas, das es gilt „in Angriff zu nehmen“ , so der amtierende Bürgermeister Wolfgang Dolesch, der die Geschicke der Gemeinde seit 2006 lenkt bzw., wie er sagt, „federführend den Strukturwandel vorantreiben konnte.“ Dolesch ist promovierter Historiker. Er hat sich intensiv mit der Geschichte der Textilindustrie und der ArbeiterInnenbewegung in der Region und der Gemeinde beschäftigt. Er weiß, dass Geschichte Wandel ist, und Wandel gestaltbar – gerade an der Geschichte Neudaus wird das deutlich.

Seit 230 Jahren ist Neudau Standort der Textilindustrie – und war damit ein im ländlichen Umland lange Zeit überdurchschnittlich reicher und zugleich fortschrittlicher Ort. Dolesch erzählt, dass Neudau bei Kanalisation, Wassernetz, Elektrizität, aber auch beim kommunalen Wohnbau vergleichbaren Gemeinden in der Region meist um Jahre voraus war. Möglich war das nicht zuletzt durch die konstant hohe Finanzkraft der Gemeinde. Noch 1995 war Neudau, gemessen daran, achtreichste Gemeinde der Steiermark – aktuell ist sie drittvorletzte. Zukunftsorientierten Investitionen in die kommunale Infrastruktur tat das aber keinen Abbruch. Kürzlich wurde das ortsweite Glasfasernetz fertiggestellt, bei Photovoltaik/Sonnenenergie und Fern-/Nahwärme ist man vorn dabei – durchaus mit Blick auf diese Geschichte einer starken kommunalen Infrastruktur im Kopf: „Also wir haben sehr früh immer alles gehabt. Das ist auch der Grund, warum wir jetzt schon in der dritten Erneuerungsphase sind, wo andere erst an die zweite denken, was die Infrastruktur etc. angeht.“ Die aktive Ausgestaltung der kommunalen Infrastruktur hat hier Tradition, ist ein Aspekt der Kontinuität und der lokalen Identität – und zugleich der zukunftsfähigen Entwicklung der Gemeinde.

Seit gut 180 Jahren ist Neudau auch Zuzugsgemeinde. Doleschs eigene Familie ist vor fünf Generationen zugezogen, war fast 120 Jahre durchgehend in der Textilindustrie beschäftigt. „Heute würde niemand mehr behaupten, dass meine Familie nicht eine alteingesessene ist.“ Wie Doleschs Familie kamen viele anfangs aus den alten Kronländern der Monarchie, dann durch die kriegsbedingten Wanderungswellen, nach 1945 im Gefolge von Ungarnkrise, Prager Frühling, Polenkrise, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, den Kriegen in Ex-Jugoslawien und schließlich auch als Flüchtlinge des Syrienkriegs nach Neudau: „Also es hat immer Menschen gegeben, die deswegen hängengeblieben sind, weil man sie aufgrund der Mehrsprachigkeit relativ gut auch betreuen konnte, die Beherbergungsbetriebe da waren. Also das »Bunte« – wenn ich es unter Anführungszeichen setzen darf – hat bei uns Tradition gehabt, weil wir damit sozusagen ein eigenes System im Gegensatz zu anderen Gemeinden entwickelt haben.“ Das „Bunte“ – oder die Diversität, wie man heute sagen würde – manifestiert sich aktuell in über 20 Nationalitäten und elf Religionsgemeinschaften, die in Neudau zusammenleben. Das „System Neudau“, das Dolesch anspricht, basiert auf der Anerkennung dieser „Buntheit“, auf dem Prinzip „Fordern und fördern“, der sprachlichen, kulturellen und auch räumlichen Integration und der konsequenten Rechtsstaatlichkeit, etwa was den gleichen Zugang zu Leistungen oder die Stellung der Religion im Leben angeht. Der Erfolg dieses „Systems“ hat aus dem einstigen „Klein-Wien“, wie Neudau ob seiner Buntheit früher manchmal genannt wurde, ein Vorbild gelingender Integration werden lassen – auch für das große Wien. Derart systematisch und erfolgreich gemanagt ist die „Buntheit“ mittlerweile selbstverständlicher und auch selbstbewusster Teil der lokalen Identität geworden, so Dolesch: „Also wir sind eine bunte Gemeinde, und unter „bunt“ meine ich diese Fülle, diese Gesamtheit, was uns ausmacht, sprachlich, kulturell, ethnisch, religiös etc. Wir sind da wirklich anders als andere Gemeinden, ja.“

Seit fast 100 Jahren wird Neudau schließlich auch sozialdemokratisch regiert – mit der Unterbrechung 1934-45. Der forcierte Ausbau der kommunalen Infrastruktur und die Integration der ZuzüglerInnen in die lokale ArbeiterInnenklasse sind ebenso Aspekte dieser politischen und kulturellen Geschichte des Orts wie die Entwicklung einer starken sozialen Infrastruktur und die Pflege der lokalen Gemeinschaft – beides hat hier ebenso Tradition, ist mittlerweile Teil der lokalen Identität geworden. In den letzten Jahren – ebenfalls vergleichsweise früh – vorangetrieben wurde in dem Zusammenhang die Inklusion von Menschen mit Behinderung: „Im Sinne von »Inklusion«, wo also dann insbesondere auch der Behindertenbereich ganz stark mit herein fließt, ist es ähnlich: Dieses Miteinander und nicht Nebeneinander ist uns immer ganz wichtig gewesen. Weil Parallelgesellschaften, egal in welcher Richtung, wollten wir nie. Und behinderte Menschen – während man die woanders quasi noch „weggesperrt“ hat ..., haben wir sie sowohl in institutionalisierter Form als auch im Rahmen eines freiwilligen Systems immer von Haus aus in die Gemeinschaft eingebunden. Und wir haben unsere Menschen mit Behinderung auch aktiv zum Mitmachen angeregt.“ Passiert ist das über kulturelle und soziale Aktivitäten wie einen „Integrationsball“ – auch hier „in der Oststeiermark jedenfalls nachweislich die ersten“ – und die entgeltliche Einbindung bei Arbeiten im Gemeindegebiet, zuletzt aber auch über Angebote inklusiven Wohnens und den forcierten, flächendeckenden Ausbau der Barrierefreiheit im Zuge der Ortsbildneugestaltung. Auch hier, so Dolesch, „waren wir da schon in Zeiten dran, wo andere das Wort vielleicht gerade mal gehört haben.“ Und auch hier ist der Gedanke der Inklusion bereits so weit Teil der lokalen Identität und war man zugleich so innovativ, dass man sich damit künftig auch glaubhaft positionieren wird können. Ein Tourismusprojekt mit einem Fokus auf Gesundheit und Barrierefreiheit, mit einem namhaften Partner, ist zwar noch nicht spruchreif, wird aber in naher Zukunft kommen, so Dolesch.

Charakteristisch und besonders für Neudau ist also die Kontinuität und die Konsequenz, mit der Innovation, Integration und Inklusion als lokale Stärken erkannt und zu einem zukunftsfähigen „System“ weiterentwickelt wurden. Über diese historische Reflexion und ihre aktive Institutionalisierung wurden sie nicht nur zum fixen Bestandteil der lokalen Identität, sondern letztlich auch zum Standortfaktor. Der Schlüssel dazu war die Schaffung einer kommunalen Infrastruktur, und dabei letztlich auch das innovative, politische UnternehmerIntum auf Gemeindeebene. Bürgermeister Dolesch bringt es aus seiner Sicht so auf den Punkt:

„Von uns aus, als Gemeinde, weil wir keine eigendynamische Gemeinde im Sinne von Privatinitiativen sind, haben wir im Sinne einer starken öffentlichen Hand versucht, natürlich hier den Strukturwandel aktiv zu gestalten, zu begleiten, Betriebsinitiativen zu unterstützen, zusätzliche Initiativen zu setzen im kulturellen Bereich, in der Gestaltung von Freizeiteinrichtungen, in der Gestaltung und Neuadaptierung von Sporteinrichtungen etc. Und wir haben ganz stark darauf gesetzt, den Ausbau der Kinderbildungs- und Betreuungseinrichtungen voranzutreiben, haben ganz stark darauf gesetzt, alles, was wir haben an Infrastruktur ganz gezielt zu modernisieren, um auf diese Art und Weise ein Lebensumfeld zu schaffen, dass die Menschen sagen: »Wenn ich schon nicht einen Arbeitsplatz hier habe und gezwungen bin auszupendeln, dann bleibe ich wenigstens hier wohnen, weil der Rest passt.«“

Es schaut ganz stark danach aus, dass diese Strategie des „guten Lebens für alle“ – so könnte man vielleicht paraphrasieren – aufgegangen ist. Der Erfolg ist nämlich durchaus messbar und kann sich sehen lassen: Der Borckenstein-Konkurs war für einige Familien ein Schlag, aber die meisten konnten in anderen Jobs, u. a. in neu angesiedelten innovativen Textilbetrieben unterkommen, mussten nicht abwandern – für die Gemeinde war der Konkurs verkraftbar. Seit kurzem gibt es in Neudau überhaupt keine Abwanderung mehr, sondern einen Netto-Zuzug, es werden sogar neue Gemeindewohnungen gebaut. Während anderswo Läden schließen, hat hier letztes Jahr ein zusätzlicher Nahversorger aufgesperrt. Die Gemeindefinanzen sind gesund und erlauben bald noch größere Investitionen in die kommunale Zukunft.

Alles in allem zeigt sich also, wie wichtig es ist – in den Worten Doleschs – „mit der Vorhersehbarkeit der Entwicklung“, also vorausschauend, aber auch mit einem Blick auf die Geschichte eines Orts zu agieren, wie wichtig die bebaute, aber auch die „mentale Infrastruktur“ (und dazu gehört auch die lokale Identität) eines Orts für seine zukunftsfähige Entwicklung sind, und welche entscheidende Rolle dabei politisches UnternehmerIntum spielen kann. Dass Wandel die einzige Konstante, die Krise eine Chance ist – was oft den Beigeschmack von Kalendersprüchen hat, das zeigt hier vor Ort Wirkung: „Wenn man so möchte“, so Dolesch,“birgt jede Krise auch die Chance der Innovation in sich. Also jede Krise kann einen Innovationsschub nach sich ziehen. Nach dem Motto: Versuchen wir das Ganze zu »handlen«.“