Die Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress wurde im Februar 2008, in den ersten Nachwehen des Ausbruchs der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise, vom französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzt. Die Kommission war mit Joseph Stiglitz (Präsident), Amartya Sen (Berater) und Jean Paul Fitoussi (Koordinator) prominent besetzt -- deshalb zuweilen auch "Stiglitz-Sen-Fitoussi Commission", kurz SSFC genannt -- und entwickelte auf Basis einer Kritik der bestehenden wirtschaftlichen Wertrechnung ("des BIP") und prominenterer Alternativvorschläge eigene Empfehlungen zur Messung von Wirtschaftsleistung und gesellschaftlichem Fortschritt. Diese liefen im Kern -- wie im Abschlussbericht der Kommission [1] zusammengefasst -- darauf hinaus, einerseits Wirtschaftsleistung realistischer -- nämlich vom tatsächlichen "Output" her -- und zugleich gesellschaftlichen Fortschritt nicht nur mittelbar, über Güterproduktion, sondern auch direkt über subjektiv erfahrenes "Wohlbefinden" zu messen. Insofern empfiehlt sich lt. der Kommission ein nicht vollständig integriertes, "plurales" System von gleichrangigen Indizes, die in einer Art "Armaturenbrett" Auskunft über die Entwicklung essentieller Teilaspekte einer nachhaltigen Entwicklung geben, die nicht substituierbar erscheinen.

 

Selbstverständnis und Motivation

In ihrem Abschlussbericht bringt die SSFC die grundlegende Intention ihrer Empfehlungen in folgenden Worten auf den Punkt: "In this time of crises, when new political narratives are necessary to identify where our societies should go, the report advocates a shift of emphasis from a “production-oriented” measurement system to one focused on the well-being of current and future generations, i.e. toward broader measures of social progress." ([1] : 10) Neben der Revision der Messung der Wirtschaftlsleistung treten damit als weitere Aspekte die Frage des Wohlbefindens bzw. der Lebensqualität und der Nachhaltigkeit als Dimensionen gesellschaftlichen Fortschritts in den Vordergrund. All diese Aspekte sollten in integrierter Weise berücksichtigt werden, dabei aber nicht auf einen Nenner heruntergerechnet bzw. zu einer einzigen Kennzahl aggregiert, sondern auf einem "dashboard" (dt. "Armaturenbrett" oder "Tableau") nebeneinander, als analoge, nicht vollständig substituierbare Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung sichtbar und politisch steuerbar gemacht werden: "To take an analogy, when driving a car, a meter that added up in one single number the current speed of the vehicle and the remaining level of gasoline would not be of any help to the driver. Both pieces of information are critical and need to be displayed in distinct, clearly visible areas of the dashboard." (ebd. : 17) Die Empfehlungen der SSFC reagieren damit auf die berechtigte Kritik am BIP, aber auch an offiziellen Statistiken, welche der subjektiv erfahrenen Lebensrealität der Bevölkerung nicht gerecht würden.

 

Methodik

Auf Basis der Kritik an Konzeption und politischer Anwendung des BIP und weiterer statistischer Kennzahlen formuliert die SSFC eine Reihe von "Empfehlungen" in den drei Bereichen Wirtschaftsleistung, Lebensqualität/Wohlbefinden und Nachhaltigkeit:

ad Wirtschaftsleistung

  • Um materiellen Wohlstand zu bewerten, schau besser auf Einkommen und Konsum als auf Produktion. Anstelle des BIP sollte damit -- wie auch von den meisten anderen ökonomischen Ansätzen praktiziert -- der Fokus eher auf dem realen verfügbaren Haushaltseinkommen und Konsum liegen: "... production can expand while income decreases or vice versa when account is taken of depreciation, income flows into and out of a country, and differences between the prices of output and the prices of consumer products." (ebd. : 13)
  • Betone die Haushaltsperspektive. Diese sei aussagekräftiger und verlaufe auch nicht parallel zur Entwicklung des BIP.
  • Berücksichtige Einkommen und Konsum im Zusammenhang mit Vermögen. Erst durch die Berücksichtigung von "Bestandsgrößen" oder "Kapitalen" könne die Nachhaltigkeit einer Entwicklung angemessen untersucht werden: "Measures of wealth are central to measuring sustainability. What is carried over into the future necessarily has to be expressed as stocks – of physical, natural, human and social capital." (ebd. : 13)
  • Schenk der Verteilung von Einkommen, Konsum und Vermögen mehr Beachtung. Aussagekräftiger wären hier Median- als Mittelwerte, am besten aber Informationen über Quartile oder Qunitile im Zusammenhang mit Verteilungsfragen.
  • Berücksichtige nicht-marktliche Aktivitäten bei den Einkommens-Berechnungen. Die zunehmende Vermarktlichung von früher durch Haushalte erbrachten Leistungen verzerrt die Darstellung eines Zugewinns an Lebensstandard, zugleich werden diese Leistungen nach wie vor nicht erfasst und somit auch nicht wertgeschätzt. Daten aus Zeitverwendungsstatistiken und der Haushaltsproduktion böten sich als ergänzende Informationsquelle an.

ad Lebensqualität und Wohlbefinden

  • Betrachte Lebensqualität als abhängig von den objektiven Lebensbedingungen und Fähigkeiten ("capabilites") der Menschen. "Lebensqualität" oder "Wohlbefinden" wird dabei als multidimensionales Konzept verstanden, das sich als Produkt des materiellen Lebensstandards (Einkommen, Konsum, Vermögen), von Gesundheit, Bildung, persönlichen Aktivitäten inkl. Arbeit/Beschäftigung, politischer Mitbestimmmung & Governance, sozialen Beziehungen & Netzwerken, Umweltfaktoren (gegenwärtige & zukünftige Bedingungen) und der wahrgenommenen Un-/Sicherheit der individuellen und gesellschaftlichen Lage ergebe. Dazu müsse die objektive Messung außerökonomischer Aspekte verbessert und verallgemeinert werden, neben aktuellen Befindlichkeiten & Ist-Zuständen sollten functionings, capabilities & freedoms, aber auch die Bedeutung von Freizeit stärker berücksichtigt werden, und es sollten sowohl objektive als auch subjektive Daten erfasst werden.
  • Berücksichtige Ungleichheit in allen Fragen der Lebensqualität. Die Frage sozialer Ungleichheit müsse immer mit erhoben werden, und zwar sowohl individuell als auch im Hinblick auf sozio-demographische Merkmale.
  • Gestalte Befragungen so, dass sie die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aspekten von Lebensqualität sichtbar und auch politisch gestaltbar machen. Entscheidend sei dabei das Erkennen von Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Bereichen von Lebensqualität.
  • Stelle geeignete offizielle statistische Informationen bereit, welche die Aggregation unterschiedlicher Dimensionen der Lebensqualität zu brauchbaren Indizes gestatten. Es brauche mehr, bessere und besser abgestimmte offizielle Statistiken, und v. a. auch subjektive Maßzahlen.
  • Berücksichtige in Erhebungen stärker, wie Menschen ihre eigene Lebenssituation bewerten, ihre Glückserfahrungen ("hedonic experiences") und Prioritäten im Leben. Neben objektiven sollten also verstärkt auch subjektive Aspekte des "Wohlbefindens" statistisch erfasst werden -- nicht zuletzt, weil sie auch Aufschlüsse über Einflussgrößen jenseits von Einkommen & mater. Bedingungen erlauben.

ad Nachhaltigkeit

  • Lege eine Armaturenbrett ("dashboard") von Indikatoren an, um die Nachhaltigkeit von Entwicklungen abschätzen zu können. Alle Aussagen über die Zukunft beruhen auf hypothetischen Annahmen und normativen Entscheidungen, Umweltfragen seien darüber hinaus durch globale Zusammenhänge mit beeinflusst, was die Frage zusätzlich kompliziere. Die Zusammenfassung verschiedener Bestandsgrößen ("stocks") würde somit ebenso wenig Sinn machen wie die Zusammenfassung solcher Zukunfts- mit Gegenwartsfragen zur Lebensqualität -- weil die erfassten Größen entweder nicht vollständig substituierbar oder nicht monetarisierbar wären. Als pragmatische Minimalanforderung sollte man die Veränderungen im Bestand verschiedener Faktoren messen, die wir für zukünftiges Wohlbefinden brauchen: "quantities and qualities of natural resources, and of human, social and physical capital." (ebd. : 17)
  • Verfolge die ökologischen Aspekte der Nachhaltigkeit mit einem separaten, ausgewählten Indikatorensatz in physischen Einheiten. Ökologische Indikatoren auch zu globalen Nachhaltigkeitsfragen mit klar definierten Schwellenwerten (z. B. zu THG-Emissionen, Fischbeständen usw.) wären unabdingbar zur Ermessung und politischen Steuerung einer nachhaltigen Entwicklung. (ebd. : 18)

 

Aussagekraft

Die Empfehlungen der SSFC bewegen sich weitgehend auf der theoretischen Ebene des Designs alternativer Messinstrumente, die es erlauben sollten, Wirtschaftsleistung (als Mittel) und Lebensqualität/Wohlbefinden (als Ziel) in nachhaltiger Weise (als Grenzbedingung) politisch zu steuern. Die konkreteren Vorschläge zu Korrekturen der wirtschaftlichen Wertrechnung finden sich weitgehend in den gängigen "Accounting-Ansätzen" (dem GPI - Genuine Progress Indicator/ISEW - Index of Sustainable Economic Welfare, dem ANS - Adjusted Net Saving, dem NWI - Nationaler Wohlfahrtsindex) umgesetzt. Allerdings liefern die SSFC-ExpertInnen recht überzeugende Argumente dafür, dass es daneben und darüber hinaus zusätzliche, nicht-monetäre Indikatoren für gegenwärtiges Wohlbefinden bzw. Lebensqualität und eine nachhaltige Entwicklung braucht, die in eigenständige Indikatoren-Systeme integriert werden sollen. Der von der SSFC präsentierte dashboard-Ansatz verbindet demnach ein korrigiertes BIP mit anderen, ebenso komplexen und mindestens ebenso wichtigen Informationen zu einem pluralen Gesamtsystem, das die Substituierbarkeit und Monetarisierbarkeit aller Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung -- und damit die Reduktion auf eine einzige, abstrakte Kennzahl -- ablehnt. Durch das empfohlene System werden zudem die Beziehungen zwischen Mittel (Wirtschaft), Zweck (Wohlbefinden/Lebensqualität) und notwendigen Grenzbedingungen (Nachhaltigkeit) deutlich und somit analysier- und -- den nötigen politischen Willen vorausgesetzt -- auch steuerbar.

 

Praxis

Die Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress (= SSFC) wurde 2008 vom französischen Staatspräsidenten eingesetzt. Die Kommission veröffentlichte 2009 einen umfassenden Endbericht mit den hier skizzierten Empfehlungen. Unmittelbar politisch aufgenommen, geschweige denn "umgesetzt" wurde indes noch keine dieser Empfehlungen. Sie haben aber -- was die vorgeschlagenen Design-Prinzipien für politisch brauchbare Alternativen zum BIP angeht -- die Debatte befeuert und die Entstehung neuer Indizes (wie z. B. Wie geht's Österreich?) zumindest inspiriert.

 

Plus/Minus

+

  • sehr gute Argumente und Ansätze zur Korrektur des BIP bzw. zur Messung von Wirtschaftsleistung
  • sehr gute Argumente zur Aufnahme subjektiver Indikatoren bei der Messung von Lebensqualität/Wohlbefinden
  • sehr gute Argumente gegen die Aggregation zu einer einzigen Kennzahl bzw. für einen dashboard-Ansatz

-

  • bleibt bei der Fülle an Vorarbeit & geballtem ExpertInnenwissen im Ergebnis recht unkonkret, vorläufig & unverbindlich
  • was bleibt ist der (wichtige und richtige) Appell für einen neuen, pluralen Ansatz, um die fehlgeleitete Macht der "einen Zahl" zu brechen

 

Quellen

[1] Stiglitz, Joseph/Sen, Amartya/Fitoussi, Jean-Paul [2009]: Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress (2009) >> ONLINE-DOKUMENT