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Unter Wirtschaftsdemokratie versteht man die Ausdehnung des Demokratieprinzips auf die Wirtschaft. Wirtschaftsdemokratie soll (1.) eine Mitsprache der Betroffenen von wirtschaftlichen Entscheidungen sicherstellen und (2.) verhindern, dass sich eine Gruppe von mächtigen Wirtschaftsakteuren auf Kosten aller anderen oder zukünftiger Generationen bereichern kann. Nach dem 1. Weltkrieg und nach dem 2. Weltkrieg war Wirtschaftsdemokratie eine zentrale Forderung. Die Losung war: „Nie wieder Krieg“. Nie wieder sollte es den wirtschaftlich Mächtigen möglich sein, sich der demokratischen Kontrolle komplett zu entziehen und ihre Macht politisch zu missbrauchen.
Die Ausschaltung demokratischer Kontrolle und die Aushöhlung demokratischer Institutionen durch wirtschaftlich mächtige Akteure ist aber auch heute eine reale Gefahr: Der Leiter des Max-Planck-instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, konstatiert gegenwärtig „eine Krise des demokratischen Staates“ und die Gefahr eines „autoritären Kapitalismus“. Es herrsche eine Machtasymmetrie zwischen dem Kapital und demokratischer Politik. Streeck spricht vom: „Drama demokratischer Staaten, die in Inkassoagenturen im Auftrag einer globalen Oligarchie von Investoren verwandelt werden“. Weitere Zeichen einer Entdemokratisierung: Wenn zunehmend das Bild des Unternehmens auf den Staat übertragen wird, so wird mit diesem Leitbild das Selbstverständnis und der Zweck des demokratischen Gemeinwesens verändert. Anstelle des demokratischen Staates als Garant des Gemeinwohls tritt der Wettbewerbsstaat, der in erster Linie die Kapitalrentabilität sichern soll – auch zulasten der Mehrheit der Bevölkerung. Entdemokratisierung geschieht auch dort, wo Politiker in vorauseilendem Gehorsam gegenüber Spekulanten „Rücksicht auf die Märkte“ nehmen, oder wenn in internationalen Wirtschaftsabkommen (aktuell TTIP) demokratisch nicht legitimierte Akteure in ihrem Interesse Regeln für Staaten festschreiben, die auch nicht durch demokratische Volksentscheide rückgängig gemacht werden können.
Wirtschaftsdemokratie ist auch hinsichtlich der großen Zukunftsfragen relevant: Ewiges Wachstum wird aus vielen Gründen nicht mehr möglich sein. Wohlstand ohne Wachstum ist intern aber eine entscheidende demokratische Frage: Wir werden beantworten müssen, wieviel müssen wir überhaupt produzieren, welche Produkte brauchen wir, wie und wo werden diese Produkte erzeugt und wie werden sie verteilt? Wirtschaftsdemokratie ist damit auch die Alternative zur Herrschaft einer kleinen Elite, welche die Lebensbedingungen der Mehrheit kontinuierlich verschlechtert, um den eigenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
In einer aufgeklärten Gesellschaft stellt sich nicht die Frage „Wieviel Demokratie verträgt die Wirtschaft?", sondern „Welche Art von Wirtschaft ist einer demokratischen Gesellschaft angemessen?“ Gehaltvolle Demokratie heißt, dass die entscheidenden gesellschaftlichen Fragen zu demokratischen Angelegenheiten gemacht werden: Wie schaffen wir sinnvolle und sinnstiftende Arbeit, wie verteilen wir die Arbeit und die Früchte der Arbeit gerecht? Wie sichern wir die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen? Wie schaffen wir den zivilisierten Ausstieg aus dem gegenwärtigen Ressourcenverschwendungsmodell?
Dabei müssen wir nicht alles neu erfinden: Es gibt genügend Beispiele und Vorschläge für die Demokratisierung der Wirtschaft.
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Mit diesem Themenschwerpunkt möchten wir den Zusammenhang unseres Wirtschaftssystems mit seiner Wertrechnung ausleuchten. Die aktuelle Krise unseres Wirtschaftssystems ist nicht zuletzt eine Krise seiner Repräsentation, d. h. der Vorstellung davon, was "Wirtschaft" überhaupt "ist" und wozu sie "gut" sein soll. Jedes Kennzahlensystem reduziert Komplexität, und die Vorstellung von Wirtschaft, die im BIP zum Ausdruck kommt, spitzt sich zu auf wirtschaftlichen Output, Effizienz und Maximierung. Und sie blendet systematisch die natürlichen, produktiven und reproduktiven Grundlagen jedes Wirtschaftens aus.
Diese Vorstellung von Wirtschaft stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert -- aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Ihre Fixierung auf Massenkaufkraft und -vernichtung, um die krisenhafte Dynamik des Kapitalismus, und mit ihr die soziale Frage national zu lösen -- all das hängt uns bis heute nach. Diese Vorstellung von Wirtschaft ist längst in die Krise geraten -- und sie ist nicht zukunftsfähig.
Wir möchten hier auch eine Reihe von Alternativen zum BIP vorstellen, die seit der ersten tiefen Krise des "demokratischen Kapitalismus'" in den 1970ern erstellt wurden, um die Macht der "einen Zahl" zu brechen und die Wirtschaftspolitik zukunftsfähig auszurichten. Das BIP sitzt nach wie vor fest im Sattel. Die teils Jahrzehnte alten Versuche, die Abhängigkeit von und die Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf Mensch und Natur realistischer abzubilden, haben bis heute kaum etwas von ihrer Radikalität und ihrer Dringlichkeit verloren. Es gibt aber auch eine Reihe ganz aktueller alternativer Kennzahlen -- ja einen regelrechten "Markt" der Indizes und Rankings. Eine bloße Ablösung des BIP durch eine andere zentrale Kennzahl wird jedenfalls nicht die Lösung sein -- wir sehen das vielmehr so: RIP BIP. Es lebe die wirtschaftliche Vielfalt!
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Sie können sich die Inhalte dieses Themenschwerpunkts auch gesammelt als ImZuWi-Dossier #1 "BIP. Kritik und Alternativen" (PDF, 1,1MB) herunterladen -- Stand Jänner 2016. Die Einträge auf der Website werden laufend aktualisiert und ergänzt.
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- Geschrieben von Dirk Raith
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