selbstversorgung

Das ImZuWi-Projekt »Graz ernährt sich« widmet sich Fragen regionaler Ernährungssicherheit und -souveränität. Es untersucht deren Notwendigkeit angesichts der zunehmenden Destruktivität und Vulnerabilität der globalisierten Nahrungsmittelindustrie. Und es sucht nach alternativen Möglichkeiten einer regional resilienten und nachhaltigen Versorgung mit Lebensmitteln. All das passiert konkret vor Ort, am Beispiel unserer Landeshauptstadt Graz.

Hintergrund

In der Versorgung mit Lebensmitteln zeigt sich die Lebensbedrohlichkeit der kapitalistischen Ökonomie am deutlichsten. Die agroindustrielle Urproduktion vernichtet systematisch Lebensgrundlagen -- und damit die Grundlagen ihrer eigenen Produktivität: Boden, Wasser und die Athmosphäre.

Am Beispiel Boden: 45 Prozent von Europas Böden haben massiv an organischer Substanz (Humus und Bodenlebewesen) und damit an natürlicher Fruchtbarkeit verloren (vgl. Bodenatlas 2015 : 18) -- abgesehen von Verdichtung, Versalzung und Erosion. Die Intensivlandwirtschaft steigert zwar weiter künstlich "Bodenerträge", und weltweit wird -- v. a. für Fleischmassenproduktion -- immer mehr Boden landwirtschaftlich genutzt (+12% in den letzten 50 Jahren -- vgl. ebd.). In reichen Ländern wie Österreich wird indes tagtäglich Boden im Ausmaß von 30 Fußballfeldern verbaut, ein Fünftel davon versiegelt (vgl. ebd. : 30). Dafür "importiert" Österreich einfach Land (häufig aus Ländern, in denen die Bevölkerung hungern muss), weil das billiger ist: Wie im EU-Schnitt ist sein "Land-Fußabdruck" (zur Deckung des Bedarfs an land- und forstwirtschaftlichen Produkten) damit mehr als eineinhalb Mal so groß wie sein Staatsgebiet -- Tendenz steigend (vgl. SERI 2011 : 22).

Unser Umgang mit Boden macht deutlich, wie lebensbedrohlich und sogar -feindlich diese Form der Lebensmittel-Produktion ist. Dieser Umstand ließe sich auch an den Auswirkungen auf Wasserhaushalt und -qualität veranschaulichen: beispielsweise an der zunehmenden Nitratbelastung des Grundwassers durch Monokultur und Fleischmassenproduktion, wie in der südlichen Steiermark. Er ließe sich an den weiteren Auswirkungen von Monokulturen, Fleischmassenproduktion und globalen Lebensmitteltransporten auf unser Klima veranschaulichen: Die industrielle Landwirtschaft ist da, mit einem Anteil von 9% der entstehenden Treibhausgasemissionen (inkl. vorgelagerter Bereiche bis zu 15%) in Österreich und 30% weltweit, ein Hauptverursacher des Klimawandels (vgl. Biowissensladen -- bio-wissen.org). Die Lebensbedrohlichkeit dieser Lebensmittelproduktion ließe sich auch an den Auswirkungen auf die Landwirtschaft selbst, als Wirtschaftsform, veranschaulichen, die immer weniger LandwirtInnen eine Lebensgrundlage bietet und zugleich, mit der Vergrößerung und Industrialisierung der Betriebe, zunehmend zum reinen Anlageobjekt für InvestorInnen zu werden droht. Die schiere Lebensfeindlichkeit dieser Lebensmittelproduktion zeigt sich besonders drastisch natürlich am Umgang mit den Lebewesen, Pflanzen und Tieren, die unsere Lebensgrundlage bilden: Qualzucht, Massentierhaltung und Lebendtransporte bedeuten bspw. allein in Österreich millionenfach produziertes Tierleid, Jahr für Jahr. Schließlich zeigt sich die Lebensbedrohlichkeit dieser Lebensmittelproduktion auch an unserem wenig wertschätzenden Verhältnis zu Lebensmitteln, als KonsumentInnen: Lebensmittel sollen wenigstens gut aussehen, jederzeit verfügbar und v. a. billig sein -- ÖsterreicherInnen geben im Durchschnitt nur mehr 12% ihres verfügbaren Haushaltseinkommens dafür aus, weniger als für ihre Hobbies (vgl. Statistik Austria, Konsumerhebung 2009/10). Die Kosten tragen andere, aber hinter der freundlich-lebensfrohen Fassade der Lebensmittelindustrie geht das gerne unter.

Lebensfreundlich ist diese Versorgung mit Lebensmitteln also nicht -- und schon gar nicht zukunftsfähig: Österreich ist massiv abhängig von Landimport (s.o.), und damit zugleich von Transportsystemen, die wiederum von der billigen Verfügbarkeit fossiler Energieträger abhängen. Österreich kann sich heute ohnehin nur unzureichend selbst mit Nahrungsmitteln versorgen -- und auch die einzelnen, scheinbar positiven Versorgungsbilanzen Österreichs bei tierischen Produkten (vgl. Statistik Austria, Versorgungsbilanzen) verkehren sich damit bei genauerem Hinsehen ins Negative, weil diese Form der Landwirtschaft massiv von Futtermitteln aus Übersee abhängig ist. Unter diesem Blickwinkel ist es auch kritisch zu sehen, dass heute -- wie unlängst medial kolportiert wurde -- der Großraum Graz (die Bezirke Graz und GU) eine halbe Million Menschen mit Lebensmitteln versorgen könnte (lt. Kleine Zeitung vom 19.1.2016 : 26f). Mit "Peak Oil" -- dem für unsere Tage prognostizierten Erdöl-Fördermaximum -- wird diese latente Fremdabhängigkeit unserer Lebensmittelversorgung schlagartig sichtbar und zum realen, existenziellen Problem werden. Es ist also hoch an der Zeit, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinander zu setzen -- und das möchten wir in diesem Projekt tun: Konkret und vor Ort.

Gegenstand und Vorgehensweise

Vor dem Hintergrund der Lebensbedrohlichkeit und Unsicherheit der heute dominanten Form der Lebensmittelversorgung möchten wir uns in diesem Projekt konkret vor Ort mit einigen brennenden Fragen auseinander setzen, die sonst eher im Dunkeln bleiben. Wir möchten damit zu einer möglichst kritisch reflektierten Bestandsaufnahme gelangen, wie es mit der Ernährungssicherheit und -souveränität im Großraum Graz aussieht -- umso brisanter, da Graz sich ja gerne als "größte Bauerngemeinde Österreichs" bezeichnen lässt (vgl. ebd.): Wie gut können wir uns tatsächlich selbst versorgen? Wie fragil ist dieses System? Wie effizient, oder ineffizient? Wie souverän sind wir letztlich als KonsumentInnen, was unsere Ernährung angeht? Und was wäre zu tun, was zu ändern? Was können wir tun? In Szenarien möchten wir uns anschauen, wie sich unsere Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten ändern müssten, um tatsächlich von einer resilienten und nachhaltigen regionalen Selbstversorgung zumindest mit den meisten Lebensmitteln sprechen zu können.

Zur Bearbeitung dieser und weiterer Fragen wurden drei Arbeitsgruppen gebildet:

Arbeitsgruppe 1 beschäftigt sich mit dem "Selbstversorgungspotenzial" im Großraum Graz. Der Fokus liegt hier auf der Produktion von Lebensmitteln in den Bezirken Graz und Graz Umgebung. In einem ersten Schritt wird hier die aktuelle Produktion landwirtschaftlicher Produkte erhoben. In einem zweiten Schritt werden Szenarien erstellt, wie im selben geographischen Raum mehr Lebensmittel regional produziert werden könnten, aber auch, wie sich eine flächendeckende Umstellung auf biologische und kleinräumige Landwirtschaft auf die Selbstversorgungskapazität mit Lebensmitteln auswirken würde. Grundlage für die Erhebungen, Berechnungen und Szenarien bilden einschlägige Produktionsstatistiken und Geo-Informationssysteme.

Arbeitsgruppe 2 beschäftigt sich mit dem "Versorgungsgrad" mit Lebensmitteln. Im Fokus steht hier der Verbrauch von Lebensmitteln in Graz. In einem ersten Schritt wird hier der aktuelle Verbrauch an Lebensmitteln in möglichst statistisch repräsentativer Form errechnet und mit der regionalen Produktion (aus AP1) in Beziehung gesetzt. In einem zweiten Schritt werden normative Szenarien erstellt, wie sich der Verbrauch an Lebensmitteln (etwa am Beispiel der "regionalen Ernährungspyramide"), aber auch die Versorgungslogistik ändern müsste, um eine weitgehend regionale und nachhaltige Versorgung mit Lebensmitteln sicherzustellen. Grundlage für die Erhebungen, Berechnungen und Szenarien bilden einschlägige Verbrauchsstatistiken und repräsentative Modelle wie der "Warenkorb" der Statistik Austria.

Arbeitsgruppe 3 beschäftigt sich -- als Bindeglied -- mit alternativen, sozial innovativen Formen der Versorgung mit Lebensmitteln. In einem ersten Schritt werden hier Beispiele "guter Praxis" in den Bereichen Produktion, Verteilung und Verbrauch von Lebensmitteln erhoben, wie bspw. unterschiedliche Formen solidarischer, gemeinschaftsgetragener Landwirtschaft (a.k.a. CSA), von Lebensmittel-Kooperativen (a.k.a. Food Coops) oder partieller urbaner Selbstversorgung mit Lebensmitteln (a.k.a. Urban Gardening). In einem zweiten Schritt werden diese Beispiele in die Erstellung wünschbarer Szenarien zur regional resilienten und nachhaltigen Versorgung mit Lebensmitteln im Raum Graz integriert. Grundlage für die Erhebungen und Szenarien bilden Internet- und Literaturrecherchen.

Organisatorisches

Das ImZuWi-Projekt »Graz ernährt sich« wird von Studierenden im Rahmen eines Praktikums im Master-Studium Global Studies durchgeführt. Die Studierenden organisieren und koordinieren sich in den Arbeitsgruppen weitgehend selbst. Jede Arbeitsgruppe wird von einer Person des ImZuWi betreut, d. h. die Studierenden erhalten hier Orientierung, Ratschläge, Anregungen, Richtigstellungen, und wenn möglich auch Antworten auf offene Fragen. Die Zusammenarbeit und Koordination zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen wird ebenfalls vom ImZuWi koordiniert. Die Ergebnisse des Projekts »Graz ernährt sich« werden im Herbst 2016 der Öffentlichkeit präsentiert. >> siehe den Beitrag "Graz ernährt sich" -- mehr schlecht als recht. Endbericht eines Studierendenprojekts zur urbanen Selbstversorgung