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[I]t measures everything in short, except that which makes life worthwile.
Robert Kennedy übers BIP*, in einer Wahlkampfrede zur US-Präsidentschaft 1968, drei Monate vor seiner Ermordung

Glück ist, was "nützt", unser Leben sicht- und greifbar (und damit vermeintlich unleugbar) verbessert, und was sich ergo messen, vergleichen und grenzenlos steigern lässt. Das ist es, was die Ökonomik -- als radikale Erbin der modernen Nützlichkeits-Ethik -- vom irdischen Glücksversprechen der Aufklärung übriggelassen hat. Eingeschrieben in die Kategorien von Wohlstand, sozialem Status und gesellschaftlichem Fortschritt, bildet dieser ökonomisch verkürzte Utilitarismus bis heute so etwas wie die "Hintergrundethik" unseres ökonomischen Zeitalters (vgl. Raith 2013 : 46f).1 Eingeschrieben ist dieser überkommene, ökonomisch verkürzte Utilitarismus, der Lust und Leid in die vermeintlich universellen "ökonomischen Motive" Hunger und Gewinn übersetzte (vgl. Polanyi 1968 : 85f), auch ins BIP. Das BIP hat das materialistische Glücksversprechen also jedenfalls nicht erfunden – aber mit seiner Erfindung wurden die Segnungen materiellen Wohlstands zur Mitte des 20. Jahrhunderts einer breiten Bevölkerung relativ dauerhaft zugänglich.

Das Glück hielt mit dem wachsenden Wohlstand indes nicht Schritt. Das ist die Grundaussage des sogenannten "Easterlin-Paradox'", das der Ökonom Richard Easterlin schon 1974 für den Zeitraum 1946-1970 in 19 der reichsten Länder der Welt beobachtet hatte (vgl. Easterlin et al. 1974) – also gerade für jene Zeit und jenen Raum, wo der bis dato längste und beeindruckendste wirtschaftliche Aufschwung der Menschheitsgeschichte stattgefunden hatte. Nach sehr apologetisch interpretierten Berechnungen bedeutete das (seit der Mitte des 19. Jahrhunderts) immerhin "one hundred times, or 9,000 percent, more music, painting, literature, philosophy, cuisine, cocktails, medicine, sports." (McCloskey 2006 : 20) Und dennoch -- so Easterlins empirisch fundierte These -- sei der Beitrag all dessen zum individuellen Lebensglück überraschend begrenzt.

ÖkonomInnen begegnen diesem Paradox -- dem offenbaren Widerspruch zwischen objektiv messbarem Lebensstandard und subjektiver Lebenszufriedenheit -- für gewöhnlich mit der These, dass Geld eben (wie alles andere auch) einen "sinkenden Grenznutzen" aufweist, oder (weniger abstrakt) dass ab einem gewissen Level der Bedürfnisbefriedigung jede weitere Einheit (zum Beispiel jedes weitere Auto) immer weniger konkreten Nutzen stiftet – uns also immer weniger noch glücklicher macht. Manche gehen sogar so weit, Glück als eine "soziale Verhältnisgröße" zu betrachten, die sich erst im Vergleich und in Beziehung mit anderen realisiert und so gesehen einen "sozialen Grenznutzen" aufweist.2 Darauf beruht auch die Argumentation der aktuell wieder populären Glücksökonomik, dass gleichere Gesellschaften auch glücklicher sind (vgl. etwa Wilkinson & Pickett 2009). VerhaltensökonomInnen bringen das u. a. mit der "Ungleichheitsaversion" realer Menschen -- also man könnte sagen: ihrem Gerechtigkeitsempfinden -- in Verbindung (vgl. Alvard 2004) und sie gehen sogar davon aus, dass Glück individell gar nicht der gewohnten Linearität von Kosten und Nutzen gehorcht, sondern eher um eine Art "subjektiven Nullpunkt" oszilliert – sie sprechen hier von einer "hedonistischen Tretmühle".

Was also zunächst (vor allem für ÖkonomInnen) paradox erscheinen mag, ist vielleicht nichts als die ernüchternde Einsicht, dass Geld nicht glücklich macht – und sich ergo auch nicht wie Geld verhält, sich also nicht einfach anhäufen, kalkulieren, horten, investieren usw. lässt.3 Vielleicht also gar kein Paradox, sondern vielmehr eine hartnäckige Illusion, die schon der Soziologe Georg Simmel für das "ungeheure Glücksverlangen des modernen Menschen" und seine Rastlosigkeit verantwortlich gemacht hatte: "Dass für Geld alles zu haben sei, und wenn schon nicht gleich, dann mit mehr Geld." (Simmel 1989 : 89).4

Das wirft schließlich die Frage auf, was Wirtschaft überhaupt mit Glück zu tun hat. Die Wirtschaftswissenschaft beruht zwar als Spin-off der praktischen Philosophie (a.k.a. Ethik) auf einem (wenngleich vormodern utilitaristisch verengten) Glücksversprechen (s. o.) -- allerdings sah sich die ökonomische Zunft bis vor Kurzem für derlei "philosophische" oder gar "normative" Fragen von Glück oder auch Wohlstand nicht eigentlich zuständig (vgl. Coyle 2014 : 14) -- immerhin wollte man sich ja als objektive Wissenschaft gerieren (vgl. Speich 2013). Im Gefolge der Wirtschafts- und Finanzkrise, und mit dem absehbaren Ende der wirtschaftlichen Nachkriegsordnung -- und damit des "demokratischen Kapitalismus'" westlichen Zuschnitts (vgl. Streeck 2013) -- haben sich aber zuletzt doch immer mehr (auch namhafte) ÖkonomInnen der Frage angenommen, ob es nicht notwendig wäre, wieder grundsätzliche Fragen über Sinn und Zweck des Wirtschaftens und entsprechender "Wohlfahrtsmessung" anzustellen (vgl. etwa Stiglitz 2008, Skidelsky & Skidelsky 2012) und das auch (zumindest) in entsprechenden Ergänzungen zum BIP abzubilden: Als Paradebeispiel solcher "glücksökonomischen" Messinstrumente gilt nach wie vor das "Bruttonationalglück"-Modell aus Bhutan. Tatsächlich aber beinhalten die meisten der aktuell ausgearbeiteten Alternativen zum BIP (mit Ausnahme vielleicht der "korrigierten BIPs") subjektive Indikatoren, um das individuelle Wohlbefinden der Menschen auch unmittelbar zu ermessen -- und nicht einfach, als unintendierte Nebenfolge des Wirtschaftswachstums, zu unterstellen.

Dass Glück aber plötzlich wieder so eine zentrale Rolle in unserer Wirtschaft spielen soll, hat sicherlich gute Gründe. Besonders schwer wiegt aber wohl der Umstand, dass der wachsende Aufwand an "Kosten" und darüber die wachsenden Sorgen, individueller und kollektiver, materieller und ideeller Natur, die unser Wirtschaftssystem – als ultimativer „externer Effekt“ quasi – mit sich bringt, zunehmend aufs Gemüt schlagen. Die Bilanz zwischen den alten Versprechen und den neuen Ängsten droht täglich zu kippen. Wenig überraschend also, dass die Suche nach dem Glück vermehrt und unmittelbar auch ins Zentrum wirtschaftlicher Aktivität – und damit ökonomischen Messens – gerückt werden soll. Wirklich paradox mutet es aber schon an, mit welcher Selbstverständlichkeit wiederum von "der Wirtschaft" erwartet wird, dass sie uns glücklich machen soll – auch wenn angesichts der Dominanz ökonomischen Gedankenguts in zeitgenössischen Diskursen irgendwie selbst das wenig überraschend ist.

Ist dieser Wunsch nach wirtschaftlicher Glücksproduktion aber letztlich nicht ein weiteres Indiz für die überzogene Bedeutung, die wir der Wirtschaft und ihrer Wissenschaft – und damit einer besseren "Kennzahl" – über unser Leben geben? Was bringt es dann, das BIP durch einen "Glücksindex" zu ersetzen – und was könnte es sogar schaden, wenn "Glück" plötzlich (gegen besseres Wissen) zu einer mess- und vergleichbaren ökonomischen Kennzahl würde? Sollten wir als Gesellschaft "die Wirtschaft" nicht besser wieder dorthin verweisen, wo sie hingehört, und wo sie uns nicht so viele und so große Sorgen verursacht – jetzt wo wir wissen, dass selbst das, was sie an Positivem hervorbringt, uns letztlich auch nicht glücklich macht?


* "Das BIP" steht in diesem Kontext sehr häufig stellvertretend auch für seine historischen Vorläufer und allgemein für "die Wirtschaft", die es statistisch repräsentiert.

1 Dieses "ökonomische Zeitalter", das mit der Entstehung des Kapitalismus um die Wende zur Neuzeit anbricht, ist gekennzeichnet durch eine ökonomische und ethische Rationalisierung der Habgier (vgl. Raith 2015) -- die Ökonomik fungiert in dem Kontext als die zentrale Rationalisierungsinstanz dieser besonderen ökonomischen Rationalität, die im Begriff des "Interesses" ihren reinsten Ausdruck findet (vgl. grundlegend Hirschman 1987).
2 Einer der ersten und fundiertesten Kritiker des BIP* als Wohlstandsmaß, Moses Abramovitz, sprach sich -- ähnlich wie Easterlin später -- für die Bestimmung einer "social marginal utility" aus, weil menschliche Bedürfnisse, und damit auch "economic well-being" niemals rein individuell, sondern relativ und zuweilen auch kompetitiv wären, d. h. "the satisfaction of some will be the cause of the dissatisfaction of others." (Fioramonti 2013 : 65) Dieser Begriff des "sozialen Grenznutzens" ist jedenfalls zu unterscheiden von der gängigeren Bedeutung als privater Grenznutzen zu- oder abzüglich externer Effekte.
3 Methodologisch spitzfindige ÖkonomInnen sehen in diesem "Paradox" eher ein statistisches Artefakt, insofern hier unterschiedliche Skalenniveaus miteinander verglichen würden: einerseits das BIP, das als Geldwert ja keine obere Grenze kennt, andererseits "Glück", das üblicherweise auf einer binären oder zumindest nach oben begrenzten Skala (etwa von 1-10) gemessen wird (vgl. Coyle 2014 : 111).
4 An derselben Stelle sieht Simmel das Geld für den modernen Menschen auch als "...einen Zentralpunkt, den man, wie den Zauberschlüssel im Märchen, nur zu gewinnen braucht, um mit ihm zu allen Freuden des Lebens zu gelangen."