"Das BIP ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Die Veränderungsrate des realen BIP dient als Messgröße für das Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaften und ist damit die wichtigste Größe der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung."1 Der Eintrag zum "Bruttoinlandsprodukt" in der deutschsprachigen Wikipedia enthält zwar noch einige technische Hinweise zur Berechnung und begrifflichen Abgrenzung. Die zentrale Botschaft steckt aber schon in der eingangs zitierten Passage: Es scheint einfach und klar, was das BIP* misst, wozu es gut ist -- und dass das wichtig ist: "It's the economy, stupid!"2
Wer immer heute von Wachstum, Wohlstand und der Wirtschaft redet, redet -- bewusst oder unbewusst -- eigentlich vom BIP: der einen Zahl, die auf Mensch und Natur weltweit heute so großen Einfluss ausübt wie wohl sonst keine Messgröße, kein Indikator, keine Statistik. Das BIP ist rein technisch all das -- es ist aber zugleich viel mehr und auch viel weniger. Wozu es gemacht wird, was es bewirkt und verbirgt, warum das BIP "20. Jahrhundert" ist und wie man Wirtschaft, Wohlstand und Wachstum ganz anders, nämlich lebensfreundlich und zukunftsfähig denken kann -- genau darum geht's im vorliegenden Themenschwerpunkt. (Und genau da docken wir damit auch immer wieder an die Impulse aus Theorie, Forschung und Praxis an, die das ImZuWi sonst noch auf dieser Website zur Verfügung stellt.)
Wir möchten hier zentrale Missverständnisse, Gretchenfragen und heiße Eisen rund ums BIP anfassen, beantworten und aufklären. Gezählt, gemessen und gerechnet wird zur Abwechslung einmal nicht. Kurz gesagt: Wir verorten das BIP (und seine historischen Vorläufer in dieser Rolle) im Kern der tiefen kulturellen Krise unserer Zeit -- wohlgemerkt weder als deren Ursache noch als bloßes Symptom, sondern als wirkmächtige Repräsentation dessen, was irgendwann vom Fortschritt übrigblieb: Wohlstand, Wachstum und Wirtschaft, und am besten immer mehr desselben.
Das BIP zu kritisieren, wie wir es hier tun, heißt also, die Vorstellungen von Wirtschaft, Wohlstand und Wachstum zu kritisieren, für die es steht -- die es repräsentiert. Es handelt sich also zunächst um eine "Stellvertreterkritik" -- aber zugleich um mehr als das, denn die Macht des BIP ist unmittelbar und real. Je mehr wir über diese Wirkungen, die Schlag- und Schattenseiten, aber auch um die Leerseiten des BIP wissen, desto besser sind wir gerüstet, es vom Sockel zu stoßen und (was davon übrig ist) mit lebensfreundlichen und zukunftsfähigen Bausteinen zu flicken. Wir werden "die Wirtschaft" als institutionalisierten, verdinglichten Gegenstandsbereich der Ökonomik nicht abschaffen können -- und wir müssen das auch nicht. Aber wir sollten ihr einen angemessenen Platz an der Seite all der anderen Dinge zuweisen, die im Leben genauso wichtig sind.
John Maynard Keynes hat wahrscheinlich mehr zur heutigen Macht des BIP und der Ökonomik beigetragen als alle ÖkonomInnen seither -- sein Plädoyer für ein post-ökonomisches Zeitalter, in dem die Wirtschaft und ihre Wissenschaft (und wir ergänzen sinngemäß: auch das BIP, nach getaner Arbeit quasi) auf den sprichwörtlichen Status der "Zahnheilkunde" zurückgeschrumpft würden, erscheint uns aber heute ungleich zeitgemäßer: If economists could manage to get themselves thought of as humble, competent people, on a level with dentists, that would be splendid!3 Dem Wunsch schließen wir uns vollinhaltlich an.
1 Wikipedia >> Bruttoinlandsprodukt
2 Der vom US-amerikanischen Politik-Berater James Carville für den Wahlkampf von Bill Clinton 1992 komponierte Slogan "The economy, stupid!" ist Ausdruck eines in der politischen Kultur und im alltäglichen Sprachgebrauch angekommenen neoliberalen Diskurs', der "die Wirtschaft" als verdinglichte zentrale Zielgröße politischen Handelns im globalen Standortwettbewerb inszeniert. vgl. Wikipedia >> It's the economy, stupid
3 John Maynard Keynes: Economic Possibilities for our Grandchildren, S. 321-332 in: ders.: Essays in Persuasion. The Collected Writings of John Maynard Keynes. Volume IX, London and Basingstoke 1972.